Magie auf dem Kreuzfelsen

Der April zeigt sich launisch, als ich mich Ende des Monats auf den Weg zum Kreuzfelsen mache. Während in den Tälern bereits die ersten Blüten leuchten, liegt auf den Höhen des Bayerischen Waldes noch vereinzelt Schnee zwischen den Fichtenwurzeln. Diese Zwischenwelt zwischen Winter und Frühling macht den Reiz dieser Wanderung aus und verleiht ihr etwas Magisches.

Aufbruch ins Erwachen

Mein Startpunkt liegt im beschaulichen Finsterau, wo sich die letzten Häuser gegen die bewaldeten Hänge lehnen. Schon die ersten Schritte führen mich in eine Welt, die gerade aus ihrem Winterschlaf erwacht. Die Luft riecht nach feuchter Erde und Harz, während sich über mir ein Himmel auftut, der nicht weiß, ob er grau oder blau sein möchte.

Der Pfad schlängelt sich zunächst sanft durch Mischwald, wo Buchen ihre ersten zarten Blätter entfalten. Zwischen den noch kahlen Ästen hindurch blitzt immer wieder das satte Grün der Fichten auf. Es ist diese Kontrastfülle, die den Bayerischen Wald im Frühjahr so besonders macht – jeder Baum erzählt seine eigene Geschichte vom Werden und Vergehen der Jahreszeiten.

Durch den Bayerischen Wald

Nach etwa einer Stunde wird der Weg deutlich steiler. Hier zeigt sich der Bayerische Wald von seiner ursprünglichen Seite: urig, wild und ungeschliffen. Wurzeln und Steine markieren den Pfad, während sich rechts und links dichter Wald ausbreitet. Manchmal durchbricht das Klopfen eines Spechtes die Stille, manchmal raschelt es im Unterholz.

Je höher ich steige, desto mehr verändert sich die Vegetation. Die Laubbäume werden seltener, die Fichten dominieren zunehmend das Bild. Hier oben hat der Winter noch deutlichere Spuren hinterlassen. Zwischen den Baumstämmen glitzern vereinzelte Schneefelder, und der Boden federt weich unter den Füßen. Ein Teppich aus Nadeln und Moos, der jeden Schritt dämpft.

Grenzgefühle am Gipfel

Nach zweieinhalb Stunden erreiche ich endlich den Kreuzfelsen. Der Name ist Programm: Auf dem 1.009 Meter hohen Gipfel steht ein schlichtes Holzkreuz, das wie ein stummer Wächter über die Landschaft blickt. Doch es ist nicht nur das religiöse Symbol, das diesem Ort seine besondere Atmosphäre verleiht – es ist die Lage direkt an der deutsch-tschechischen Grenze.

Von hier oben schweift der Blick über zwei Länder. Nach Süden erstreckt sich der deutsche Teil des Bayerischen Waldes mit seinen sanften Kuppen und tiefen Tälern. Nach Norden und Osten öffnet sich die weite tschechische Landschaft des Böhmerwaldes. An klaren Tagen soll man bis zu den Alpen blicken können. Heute verhüllen Wolken die Fernsicht, aber das macht nichts. Die Nähe, die Intimität dieser Bergwelt wirkt heute viel intensiver.

Frühlingsboten überall

Besonders fasziniert mich auf dem Rückweg, wie sich der Frühling hier oben seinen Weg bahnt. Zwischen den Felsen sprießen die ersten Leberblümchen, ihre zarten blauen Blüten wie kleine Sterne im noch spärlichen Grün. An geschützten Stellen haben Buschwindröschen bereits ihre weißen Köpfe gereckt. Es ist, als würde die Natur hier oben jeden warmen Sonnenstrahl dankbar aufsaugen und in neues Leben verwandeln.

Der Abstieg führt mich durch andere Waldabschnitte, vorbei an moosbedeckten Felsblöcken und kleinen Bächen, die munter talwärts plätschern. Das Schmelzwasser sammelt sich in natürlichen Becken und bildet kleine Spiegel, in denen sich die Baumkronen spiegeln.

Warum der Kreuzfelsen verzaubert

Was macht diese Wanderung so besonders? Es ist die Mischung aus Einsamkeit und Weite, aus Beschaulichkeit und Erhabenheit. Der Kreuzfelsen ist kein spektakulärer Gipfel im alpinen Sinne, aber er besitzt etwas, was viele höhere Berge vermissen lassen: Seele. Hier oben spürt man die Ruhe des Bayerischen Waldes, seine Ursprünglichkeit und seine grenzüberschreitende Weite.

Die Wanderung dauert etwa fünf Stunden und bietet genau die richtige Mischung aus körperlicher Herausforderung und geistiger Entspannung. Wer den Trubel der Alpen meiden und trotzdem echte Bergerfahrung sammeln möchte, ist hier richtig. Der Kreuzfelsen erinnert daran, dass Größe nicht immer mit Höhe zu tun hat.