Hoher Hagen im Dransfelder Stadtwald
Der November. Für viele ein Monat des Rückzugs, des ungemütlichen Nieselregens und der grauen Tage. Für mich ist es der Monat, der den Wald in seiner reinsten Form enthüllt. Das bunte Laub hat sich verabschiedet und gibt den Blick frei auf das Wesentliche: die knorrigen Äste, die moosbewachsenen Steine und die verborgene Geschichte einer Landschaft. Genau diese pure, unverfälschte Naturerfahrung habe ich an einem klaren, kalten Novembertag im Dransfelder Stadtwald gesucht – und auf dem Gipfel des Hohen Hagen gefunden.
Der Ruf des Waldes
Schon die ersten Schritte vom Wanderparkplatz aus fühlen sich anders an als im Sommer. Der Boden federt weich unter meinen Füßen, bedeckt von einer dicken Schicht feuchten Laubes. Die Luft ist frisch und klar, erfüllt vom erdigen Duft des Waldes, der sich auf den Winter vorbereitet. Wo im Sommer ein dichtes Blätterdach das Licht filtert, tanzen die Sonnenstrahlen nun beinahe ungehindert durch das Geäst und malen lange, goldene Streifen auf den Weg.
Der Pfad schlängelt sich sanft bergan, vorbei an majestätischen Buchen und Eichen, deren kahle Kronen wie feine Scherenschnitte gegen den blauen Himmel stehen. Es ist eine Zeit der Ruhe. Kein Vogelgezwitscher, nur das leise Rascheln meiner Schritte und das ferne Klopfen eines Spechts. Diese Stille ist nicht leer, sondern erfüllt von der Präsenz des Waldes selbst. Sie schärft die Sinne für die kleinen Wunder am Wegesrand: die filigranen Muster von Eiskristallen auf einem alten Baumstumpf, das leuchtende Grün eines Moosteppichs, der sich an einen Basaltbrocken klammert.
Das vulkanische Herz
Der Hohe Hagen ist kein gewöhnlicher Berg. Er ist das Überbleibsel eines längst erloschenen Vulkans. Und diese feurige Vergangenheit offenbart sich, je höher man steigt. Der Weg wird steiniger, gesäumt von dunklem, fast schwarzem Basaltgestein. Hier und da entdecke ich die Spuren des alten Steinbruchs, der bis in die 1970er Jahre die Landschaft prägte. Schroff abfallende Kanten und von Menschenhand geschaffene Terrassen erzählen eine Geschichte von harter Arbeit und der einstigen wirtschaftlichen Bedeutung dieses Ortes.
Ein Geologie- und Bergbaupfad begleitet den Weg und macht die unsichtbare Geschichte sichtbar. Es ist faszinierend, sich vorzustellen, wie hier einst Maschinen dröhnten und der Berg Stück für Stück abgetragen wurde – so sehr, dass sogar der ursprüngliche Gipfel weichen musste. Heute hat sich die Natur das Areal zurückerobert. Birken und Pionierpflanzen klammern sich an die Felswände, und eine friedliche Stille liegt über dem ehemaligen Bruch.
Weite Blicke vom Gaußturm
Das Ziel der Wanderung ist unübersehbar: der 51 Meter hohe Gaußturm. Ein schlanker Turm aus Beton, der den ursprünglichen, eingestürzten Basaltturm ersetzt. Seinen Namen verdankt er dem berühmten Mathematiker Carl Friedrich Gauß, der den Hohen Hagen für seine Landesvermessung nutzte.
Oben auf der Plattform angekommen, raubt mir der Ausblick den Atem. Der kalte Novemberwind pfeift mir um die Ohren, aber die Klarheit der Sicht ist ein unbezahlbares Geschenk. Weit schweift der Blick über das Göttinger Land, zum Kaufunger Wald und bei guter Sicht sogar bis zum Harz mit dem markanten Brocken. Die Landschaft liegt da wie eine Landkarte, durchzogen von Wäldern, Feldern und kleinen Dörfern. Es ist ein Moment, der erdet und zugleich befreit. Ein Gefühl, über den Dingen zu stehen und die Hektik des Alltags weit unter sich zu lassen. Ein kleiner Tipp: Informiert euch vorab über die Öffnungszeiten des Turms, besonders außerhalb der Hauptsaison, um nicht vor verschlossenen Türen zu stehen.
Abschied im Abendlicht
Der Rückweg führt mich über einen anderen Pfad, der sich durch einen lichten Mischwald schlängelt. Die tief stehende Nachmittagssonne taucht alles in ein warmes, weiches Licht. Die Schatten werden länger und der Wald scheint noch einmal tief durchzuatmen, bevor die Nacht hereinbricht.
Diese Wanderung auf den Hohen Hagen war mehr als nur eine sportliche Betätigung. Es war eine Begegnung mit der Geschichte der Erde, eine Meditation in der Stille des Novembers und ein Fest für die Sinne. Sie hat mir wieder einmal gezeigt, dass jede Jahreszeit ihre eigene, unvergleichliche Magie besitzt. Man muss sich nur darauf einlassen und loswandern.