Höhenluft am Großen Daumen

Der Mai ist eine besondere Zeit in den Bergen. Unten im Tal grünt und blüht es schon verschwenderisch, während oben am Grat oft noch die letzten Schneereste klammern. Genau dieser Kontrast hat mich gereizt, als ich mich an einem klaren Morgen aufmachte, den Großen Daumen zu besteigen – einen markanten Gipfel im Herzen der Allgäuer Alpen, der viel mehr zu bieten hat als sein eher nüchterner Name vermuten lässt.

Frühlingserwachen im Tal

Ich starte früh. Die Luft ist frisch, aber nicht kalt, der Himmel über mir wolkenlos. Im Tal strecken sich die ersten Enziane mutig der Sonne entgegen, und zwischen den feuchten Wiesen glitzert noch der Morgentau. Der Weg steigt bald an, führt durch lichte Wälder, in denen das Licht in goldenen Streifen auf den Boden fällt. Vögel singen, irgendwo rauscht ein Bach. Das Allgäu zeigt sich von seiner friedlichsten Seite.

Je höher ich komme, desto mehr verändert sich die Landschaft. Die Wälder weichen offenen Hängen, die Ausblicke werden weiter. Immer wieder bleibe ich stehen, schaue zurück ins Tal, wo die Häuser klein wie Spielzeug wirken. Die Sonne steigt langsam höher, wärmt mir den Rücken und beleuchtet die ersten Schneeflecken, die sich in schattigen Mulden halten.

Über Almen und Schneefelder

Die Vegetation wird karger. Ich passiere eine verlassene Alm, deren Holzbalken noch die Spuren des letzten Winters tragen. Im Sommer mag hier geschäftiges Treiben herrschen, jetzt aber liegt eine wohltuende Stille über dem Ort, nur unterbrochen vom Pfeifen eines Murmeltiers irgendwo in der Ferne.

Kurz darauf wird der Pfad anspruchsvoller. Ein paar Schneefelder versperren den Weg, doch sie sind gut zu queren. Jeder Schritt knirscht. Unter den Füßen spüre ich, dass der Frühling hier oben noch zögerlich ist. Trotzdem: Die Sonne hat Kraft, und unter den blanken Felsen sprießen bereits erste Blüten. Kleine, zähe Überlebenskünstler, die sich durch die Schneedecke gekämpft haben.

Eine großartige Aussicht mit Weitblick

Als ich schließlich den Grat erreiche, empfängt mich eine andere Welt. Die Luft ist dünner, der Wind schärfer. Aber der Blick – überwältigend. Nach Süden schweift er weit über das alpine Panorama, während sich nach Norden die sanfteren Hügel ins Voralpenland ziehen. Direkt unter mir liegt der still daliegende Engeratsgundsee, noch halb von Eis bedeckt.

Der Gipfel des Großen Daumen selbst ist kein dramatischer Felsturm, sondern eher ein ruhiger, offener Ort. Und gerade das macht ihn so besonders. Ich setze mich ins Gras, genieße Brot, Aussicht und diesen wunderbaren Moment, in dem die Zeit für ein paar Minuten stillzustehen scheint.

Kein anderer Wanderer weit und breit – nur ich, der Wind und das leise Knacken des Eises auf dem See. Die Kombination aus Stille, Weite und dem Gefühl, ganz oben zu stehen, ist schwer in Worte zu fassen. Vielleicht ist es genau das, was mich immer wieder in die Berge zieht.

Der Weg zurück mit viel Liebe

Der Abstieg fällt mir leicht. Vielleicht, weil der Tag inzwischen warm geworden ist und ich auf dem Rückweg viele der Details noch einmal bewusst wahrnehmen kann. Vielleicht aber auch, weil mein Herz gerade leicht ist – erfüllt von dieser intensiven Erfahrung, von Farben, Gerüchen, Geräuschen, die sich tief eingebrannt haben.

Wieder unten im Tal, erscheint mir alles fast zu laut, zu schnell. Aber ein Blick zurück zum Gipfel genügt, und ich weiß: Ich komme wieder. Vielleicht im Herbst, wenn der Nebel über die Hänge zieht. Oder im nächsten Frühjahr, wenn der Schnee dem ersten Grün weicht.

Der Große Daumen mag nicht der spektakulärste Gipfel der Allgäuer Alpen sein – aber er ist ein Ort voller stiller Magie. Und genau das macht ihn für mich zu einem ganz besonderen Ziel.