Eine wundervolle Tour auf den Geiersberg
Es gibt Wanderungen, die mit dramatischen Panoramen prahlen und es gibt solche, die ihre Schönheit im Stillen entfalten. Im Detail, im Flüstern des Windes und im moosigen Duft von altem Holz. Meine Tour auf den Geiersberg, das Dach des Spessarts, an einem sonnengetränkten Augusttag gehörte eindeutig zur zweiten Kategorie. Es war keine Jagd nach Postkartenmotiven, sondern ein tiefes Eintauchen in die Seele eines der ursprünglichsten Wälder Deutschlands.
Aufbruch in ein Meer aus Grün
Mein Weg beginnt am Torhaus Aurora, einem Namen wie aus einem Märchenbuch, der perfekt zu dem passt, was folgen sollte. Die Luft ist bereits am Vormittag erfüllt von der warmen, würzigen Schwere des Hochsommers. Doch kaum habe ich die ersten Schritte getan, schliesst sich das Blätterdach über mir und die Welt verändert sich. Das grelle Sonnenlicht wird zu einem sanften, gefilterten Schein, der in goldenen Flecken über den federnden Waldboden tanzt.
Der Pfad führt mich zunächst sanft abwärts in den Weihersgrund. Hier unten, in der feuchten Kühle des Talgrunds, scheint die Zeit stillzustehen. Das Wasser eines kleinen Bachs gurgelt leise, und das Summen der Insekten ist das einzige Geräusch, das die andächtige Stille durchbricht. Es ist dieser Moment des Ankommens, in dem der Lärm des Alltags verblasst und der Rhythmus des Waldes Besitz von einem ergreift.
Der langsame Anstieg zum Gipfel
Der eigentliche Aufstieg zum Geiersberg ist kein schweisstreibender Kampf, sondern eine meditative Reise nach oben. Der Weg schlängelt sich in langen, sanften Kurven durch einen Wald, wie er im Buche steht. Mächtige Buchen, deren glatte Stämme wie Säulen einer Kathedrale in den Himmel ragen, wechseln sich ab mit knorrigen, jahrhundertealten Eichen. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, durch einen verwunschenen Ort zu wandern, einen Ort, an dem hinter jedem Baum ein Specht – der Namensgeber des Spessarts – klopfen oder ein Märchen wahr werden könnte.
Ich folge den Markierungen tiefer in das Herz des Hochspessarts. Der Pfad wird schmaler, wurzeliger, und der Wald um mich herum scheint mit jedem Höhenmeter dichter und geheimnisvoller zu werden. Es gibt keine grossen Ausblicke, die ablenken. Die ganze Aufmerksamkeit gehört dem Wald selbst: dem Spiel von Licht und Schatten, dem Rascheln im Unterholz, dem erdigen Geruch von Laub und Pilzen, der die Luft erfüllt. Es ist eine Wanderung für die Sinne, eine Einladung, genau hinzusehen und hinzuhören.
Am höchsten Punkt angekommen
Nach einer gefühlten Ewigkeit des sanften Anstiegs lichtet sich der Wald ein wenig und ich stehe auf dem breiten Rücken des Geiersbergs. Mit 586 Metern ist er die höchste Erhebung im gesamten Spessart. Wer hier oben ein klassisches Gipfelerlebnis mit weitem Rundumblick erwartet, wird eines Besseren belehrt. Der Geiersberg ist bescheiden. Sein Gipfel ist bewaldet, gekrönt von einem schlichten Holzkreuz und dem nahen, stählernen Funkturm, der wie ein modernes Ausrufezeichen in der uralten Landschaft steht.
Doch die Belohnung ist nicht die Aussicht nach aussen, sondern der Blick nach innen. Ich setze mich auf eine Bank nahe dem Gipfelkreuz, schliesse die Augen und lausche. Ich höre nur das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Buchen und Eichen. Ein tiefes, beständiges Geräusch, das wie der Atem des Waldes klingt. In diesem Moment spüre ich die ganze Kraft und Ruhe dieses Ortes. Hier oben regiert nicht der Mensch, sondern die Natur. Es ist ein Gefühl tiefer Verbundenheit und Demut.
Ein Abschied auf leisen Sohlen
Der Abstieg führt mich über einen anderen Weg, vorbei am Forsthaus Sylvan, das idyllisch im Wald versteckt liegt. Die Sonne steht schon tiefer und wirft lange Schatten durch die Bäume. Der Wald glüht in einem warmen, goldenen Licht. Es ist, als würde er sich für den Tag verabschieden. Mit jedem Schritt, der mich zurück zum Ausgangspunkt bringt, nehme ich ein Stück dieser tiefen, unaufgeregten Magie mit.
Die Wanderung auf den Geiersberg ist keine Tour für Trophäensammler. Sie ist ein Geschenk für alle, die im Wald mehr sehen als nur Bäume. Sie ist eine Erinnerung daran, dass das grösste Abenteuer oft in der Stille zu finden ist – im Herzen eines alten Waldes, auf dem Dach des Spessarts.