Goldener Weg zum Aggenstein
Der September ist meine liebste Zeit in den Bergen. Die Hitze des Sommers weicht einer angenehmen Kühle, das Licht wird weicher, die Farben intensiver. An diesem Morgen hängt der Nebel noch in den Wäldern, als ich den Pfad zum Aggenstein einschlage. Es ist still, nur das Knacken meiner Schritte und das ferne Rufen eines Vogels begleiten mich.
Schon nach wenigen Metern bin ich in einem anderen Rhythmus. Der Alltag bleibt im Tal zurück, der Blick hebt sich, Schritt für Schritt. Der Weg führt erst durch dichten Bergwald, dann öffnet sich die Landschaft. Erste Ausblicke zeigen sich: ins Tal, hinüber zur Tannheimer Gruppe, hinunter zu sattgrünen Matten, auf denen der Tau glitzert.
Im Bann des Berges
Der Aggenstein ist mit seinen 1.986 Metern kein Riese, aber ein markanter Gipfel, der über dem Allgäuer Voralpenland thront wie ein Thron aus Stein. Immer wieder blitzt er zwischen den Bäumen hervor, als wolle er sagen: "Komm, du bist auf dem richtigen Weg." Je näher ich ihm komme, desto klarer wird seine Gestalt. Schroff, felsig, einladend und respekteinflößend zugleich.
Der Steig wird steiler, das Gelände alpiner. Ich wechsle vom Wandern zum Kraxeln. Die Hände helfen mit, das Gelände wird rau. Es ist diese Mischung aus körperlicher Herausforderung und purer Landschaft, die mich immer wieder in die Berge zieht. Das Spiel aus Nähe und Ferne, aus Schweiß und Staunen.
Oben und sprachlos
Und dann bin ich oben. Der Wind trägt den Duft von Stein und Himmel heran. Weit schweift der Blick – ins Tannheimer Tal, auf die Kette der Allgäuer Alpen, bis zum Horizont. Tief unter mir liegt das Tal wie ein gemaltes Bild. Ich setze mich, lehne mich an einen Felsen, atme. Der Moment gehört nur mir.
Hier oben scheint die Zeit stillzustehen. Ein paar andere Wanderer genießen das gleiche Panorama, aber es ist leise, fast ehrfürchtig. Der Gipfel wirkt wie ein heiliger Ort. Nicht im religiösen Sinn, sondern im ganz menschlichen: ein Platz, an dem man sich klein fühlt und doch ganz bei sich ist.
Ein sanftes Zurückkehren
Der Rückweg führt über denselben Pfad, doch es fühlt sich anders an. Das Licht hat sich verändert. Die Sonne steht tiefer, taucht die Hänge in goldene Töne. Die Wiesen leuchten in Ocker, Braun und noch immer sattem Grün. Der Herbst malt mit feinem Pinsel.
Ich nehme mir Zeit. Bleibe stehen, wo es schön ist. Lasse den Blick schweifen, höre den Wind in den Gräsern. Und denke: Es ist nicht nur der Gipfel, der zählt. Es ist der ganze Weg: das langsame Steigen, das bewusste Gehen, das Draußensein mit allen Sinnen.
Ein Berg, der in Erinnerung bleibt
Wieder im Tal, spüre ich die Müdigkeit in den Beinen und ein Lächeln im Gesicht. Der Aggenstein hat mir einmal mehr gezeigt, warum ich das Wandern liebe. Weil es erdet. Weil es belebt. Weil es uns die Welt in ihrer schönsten Form zeigt.
Die Tour ist kein Geheimtipp und muss es auch nicht sein. Wer im Herbst auf den Aggenstein steigt, erlebt Natur in ihrer klarsten Form: roh, still, farbenreich. Und kehrt mit dem Gefühl zurück, dem Himmel ein Stück näher gewesen zu sein.